Rundbrief zum Jahreswechsel 2024/2025
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Circulaire de fin d´année 2024
Liebe Überlebende, Angehörige und Freund*innen,
ich freue mich, dass wir Ihnen in diesem Rundbrief von unserer Arbeit in diesem Jahr berichten und einige Gedanken und Pläne mit Ihnen teilen können. Beim Schreiben dieses Briefes fiel es mir allerdings schwer, einen Anfangspunkt zu finden. Der seit 2022 andauernde Krieg Russlands gegen die Ukraine, das Erstarkens autoritärer Regime weltweit, der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der folgende Krieg im Gaza-Streifen belasten uns alle und unsere Arbeit in der Stiftung. Auch in Deutschland haben sich gesellschaftspolitische Konfliktlagen verschärft. Der Erfolg rechtsextremer Parteien und Gruppierungen ist besorgniserregend und gefährdet unsere vielfältige Kultur- und Erinnerungslandschaft; und nicht nur das: Sie gefährden die Grundfesten unserer auf Menschenwürde, Diversität und Gleichberechtigung basierenden freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Es gehört zu den Grundaufgaben zeithistorischer Gedenkstätten und Erinnerungsorte, allen antisemitischen und geschichtsrevisionistischen Bestrebungen entgegenzutreten und sich für die uneingeschränkte Geltung der Menschenrechte einzusetzen.
Deswegen sind wir dankbar – und damit hätte ich eigentlich beginnen wollen –, dass wir doch viele Menschen wie Sie als Wegbegleiter*innen, Projektpartner*innen und Wohlgesinnte an unserer Seite haben. Die Sorge um unsere Demokratie beschäftigt viele Menschen. Das spüren wir auch an der enormen Nachfrage nah unsere Wanderausstellung „Rechte Gewalt in Hamburg nach 1945“, die wir im Januar 2024 im Hamburger Rathaus und anschließend bereits an zehn weiteren Standorten gezeigt haben, ist auf großartig starkes Interesse gestoßen – sie hatte schon über 10.000 Besucher*innen und wird auch noch an sechs weiteren Orten gezeigt werden. Informationen zu den Tatorten und Tatbeteiligten gibt eine digitale Karte (www.rechtegewalt-hamburg.de) mit Hintergründen und Informationen. Sie wurde gemeinsam mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte im Projekt „HAMREA (Hamburg rechts außen)“ entwickelt.
Nicht nur für uns als Stiftung, sondern auch für viele Gäste der KZ-Gedenkstätte Neuengamme war es ein großes Geschenk, dass die KZ-Überlebenden Livia Fränkel, Dita Kraus, Helga Melmed und Barbara Piotrowska, teils mit ihren Angehörigen, anlässlich der Gedenkfeier zum 79. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung der Konzentrationslager zu uns gekommen sind. Sie nahmen sich wieder die Zeit, sich mit vielen Jugendlichen in Zeitzeuginnengesprächen und im Rahmen eines Erzählcafés auszutauschen. Auch konnten wir wieder viele Angehörige von Häftlingen des KZ Neuengamme und Delegationen von Verbänden im Rahmen von Gedenkfahrten bei uns begrüßen. Eindrucksvoll waren auch die Gedenkfeierlichkeiten in Belgien, Frankreich und den Niederlanden zu den 80. Jahrestagen der Razzien in Murat, Meensel-Kiezegem und Putten, an denen Vertreter*innen der Stiftung teilnehmen durften.
Die Hamburger Gedenkinitiativen haben sich im Juni zu einem ersten Vernetzungstreffen zusammengefunden und über künftige Vorhaben ausgetauscht. Es waren lebendige und motivierende Begegnungen, für die wir uns bei allen Beteiligten noch einmal herzlich bedanken.
Allen Mitarbeiter, die unsere Stiftung in diesem Jahr verlassen haben, gilt unser großer Dank für Ihre teils langjährige Arbeit, auch möchten wir alle, die neu begonnen haben, herzlich begrüßen. Namentlich verabschieden möchte ich an dieser Stelle Hanno Billerbeck, der unsere Arbeit als Vertreter des Pfarramts kirchliche Gedenkstättenarbeit zwölf Jahre wunderbar begleitet hat und dem im September 2024 Martin Zerrath als neuer Gedenkstättenpastor nachgefolgt ist.
In unseren Bildungsprogrammen spielten in diesem Jahr internationale Verbindungen eine große Rolle: Das Thema „Erinnern an die NS-Verbrechen in Zeiten des internationalen Rechtsrucks“ diskutierten wir im November auf dem „10. Forum Zukunft der Erinnerung“ und im Sommer im internationalen Jugend-Workcamp mit Menschen aus elf Ländern.
Unsere Bildungsangebote haben wir in diesem Jahr vielfach ausgebaut: Der Geschichtsort Stadthaus hat sich innerhalb kürzester Zeit in der Gedenkstättenlandschaft Hamburgs für Veranstaltungen und Bildungsangebote fest etabliert und wird sehr gut besucht. Im dortigen „Projektschaufenster“ haben schon mehrere Vereine ihre Arbeit, Positionen und auch Forderungen an die städtische Erinnerungskultur präsentiert. Das Projekt „Welche Stimme haben wir?“ verfolgt das Ziel, Angehörige von NS-Verfolgten stärker in die Erinnerungs- und Bildungsarbeit Stiftung an ihren verschiedenen Standorten einzubeziehen. Die Fußballeuropameisterschaft in Hamburg haben wir mit einem mehrsprachigen Bildungsprogramm begleitet. Unter dem Motto „Museum zum Anfassen“ bieten wir nun auch inklusive Angebote an.
Am denk.mal Hannoverscher Bahnhof konnten wir im Mai Else Baker als überlebende Sinteza der Deportationen aus Hamburg nach Auschwitz begrüßen und zudem eine Open-Air-Ausstellung mit historischen und zeitgenössischen Fotografien zu den Hamburger Sammelorten der Deportationen zeigen. Die deutsch-englische Ausstellungsbroschüre „…ohne jede Hoffnung auf Rückkehr“ steht online auf unserer Homepage zur Verfügung.
2024 haben wir unsere Forschungen erweitert. Auf zwei in Schriftenreihen unserer Stiftung herausgegebene Bücher möchte ich hinweisen – den Sammelband „Im Zugriff von Fürsorge und Polizei. Erfahrungen sozialrassistischer Verfolgung im Nationalsozialismus“ und die Monographie „Eingezeichnet. Zeichnungen und Zeitzeugenschaft aus Ravensbrück und Neuengamme“. Aktuelle Forschungen beschäftigen sich mit dem Thema „Die Hamburger Kulturlandschaft im Nationalsozialismus“ – dies soll 2026 in einer Rathausausstellung präsentiert werden – und zum Krankenrevier im KZ Neuengamme entsteht eine große Studie. Einige der Ergebnisse sollen später in ein sehr großes Vorhaben einfließen, das wir derzeit vorbereiten: Wir möchten gerne drei unserer Dauerausstellungen erneuern und sechs der 20 noch erhaltenen Gebäude des ehemaligen Konzentrationslagers sanieren.
Mit dem Digital Remembrance Game „Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm“ haben wir Neuland beschritten. Die Spurensuche zum Kindermord am Bullenhuser Damm in Form eines Computerspiels ist vor allem für den Einsatz an Schulen gedacht. Es ist auf der Website der Gedenkstätte Bullenhuser Damm verfügbar.
Wie wir beobachten, wird das Thema „Kunst und Erinnerung“ gerade in der Erinnerungskultur wichtiger. Auch wir haben in 2024 mehrere Kunstprojekte realisiert: Nach dem 22. Februar, dem zweiten Jahrestag Tag des Angriffs Russlands auf die Ukraine, haben wir Zeichnungen von ukrainischen Künstlern zu Erinnerungsberichten von drei Häftlingen aus der Ukraine bei uns gezeigt. Im Klinkerwerk richtete Sława Harasymowicz, Künstlerin und Angehörige eines polnischen Neuengammehäftlings, von August bis Dezember eine Multimediainstallation ein. Und wie jedes Jahr realisierten Schüler*innen im ehemaligen Tatraum am Bullenhuser Damm ein temporäres Kunstwerk in Erinnerung an die dort ermordeten 20 jüdischen Kinder. Es wurde im Rahmen der Gedenkveranstaltungen am 20. April eröffnet.
In diesem Jahr mussten wir uns aber leider auch von vielen uns nahestehenden Menschen verabschieden. Wir erinnern an die KZ-Überlebenden und Zeitzeug*innen Rola Sochaczewska, Salomon Birenbaum, Cornelis Feenstra, Louis Malziev, Eva Smolková-Keulemansová, Anton Rudnjew, Natan Grossmann und Lidiia Turovskaja. Erst vor kurzem haben wir die Nachricht erhalten, dass unser langjähriger Weggefährte Prof. Dr. Habbo Knoch, Vorsitzender der Fachkommission unserer Stiftung, völlig unerwartet mit 55 Jahren verstorben ist. Wir trauern mit allen Angehörigen der Verstorbenen.
Im Namen aller Mitarbeiter*innen wünsche ich Ihnen allen, dass Sie wohlbehalten ins neue Jahr 2025 gehen und dass wir friedlichen Zeiten entgegensehen können!
Prof. Dr. Oliver von Wrochem, Hamburg, im Dezember 2024
Vorstand der Stiftung und Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme